Sonntag, 3. Juli 2011

Brief von Helmuth Moltke an Freya Moltke, 11.1.1945

Helmuth James Graf von Moltke war ein deutscher Jurist, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, und Begründer der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis.

Im Januar 1945 standen Moltke und andere Mitglieder des Kreisauer Kreises vor dem Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler. Da Moltke eine Beteiligung an Staatsstreich-Vorbereitungen nicht nachgewiesen werden konnte, stützte Freisler seine Anklage auf einen anderen Schuldvorwurf: Moltke und seine Mitstreiter hätten darüber nachgedacht, wie ein sich auf sittliche und demokratische Grundsätze zurückbesinnendes Deutschland in einer Zeit nach Hitler entstehen könnte, was Freisler als ein todeswürdiges Verbrechen ansah. (Quelle: wikipedia)

Vom Gefängnis aus unterhielt Moltke einen regen Briefaustausch mit seiner Frau Freya, wobei die Briefe heimlich über den Gefängnispfarrer geschmuggelt wurden. Am 11.1.1945, dem Tage seiner Verurteilung zum Tode, schrieb Moltke:

(...) Ich denke mit ungetrübter Freude an Dich und die Söhnchen, an Kreisau und all die Menschen da: der Abschied fällt mir im Augenblick garnicht schwer. Vielleicht kommt das noch. Aber im Augenblick ist es mir keine Mühe. Mir ist ganz und garnicht nach Abschied zu Mute. Woher das kommt, weiß ich nicht. Aber es ist nicht ein Anflug von dem, was mich nach Deinem ersten Besuch im Oktober, nein, November war es wohl, so stark überfiel. Jetzt sagt mein Inneres: a. Gott kann mich heute genauso dahin zurück führen wie gestern, und b. und wenn er mich zu sich ruft, so nehme ich es mit. Ich habe garnicht das Gefühl, das mich manchmal überkam: Ach, nur noch ein Mal möchte ich das alles sehen.

Dabei fühle ich mich garnicht "jenseitig". Du siehst ja, daß ich mich lieb mit Dir unterhalte, statt mich dem lieben Gott zuzuwenden. In einem Liede -208,4- heißt es: "denn der ist zum Sterben bereit, der sich lebend zu Dir hält." Genau so fühle ich mich. Ich muß, da ich heute lebe, mich eben lebend zu ihm halten; mehr will er garnicht. Ist das pharisäisch? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber zu wissen, daß ich nur in seiner Gnade und Vergebung lebe und nichts von mir habe oder von mir vermag.

Ich schwätze, mein Herz, wie es mir in den Sinn kommt; darum kommt jetzt etwas ganz anderes. Das Dramatische an der Verhandlung war letzten Ende folgendes:

In der Verhandlung erwiesen sich alle konkreten Vorwürfe als unhaltbar, und sie wurden auch fallengelassen. Nichts davon blieb. Sondern das, wovor das Dritte Reich solche Angst hatte, daß es 5, nachher werden es 7 Leute werden, zu Tode bringen muß, ist letzten Ende nur folgendes: ein Privatmann, nämlich Dein Wirt, von dem feststeht, daß er mit 2 Geistlichen beider Konfessionen, mit einem Jesuitenprovinzial und mit einigen Bischöfen, ohne die Absicht, irgend etwas Konkretes zu tun, und das ist festgestellt, Dinge besprochen hat, "die zur ausschließlichen Zuständigkeit des Führers gehören". Besprochen was: nicht etwa Organisationsfragen, nicht etwa Reichsaufbau - das alles ist im Laufe der Verhandlung weggefallen, und Schulze hat es in seinem Plaidoyer auch ausdrücklich gesagt ("unterscheidet sich völlig von allen sonstigen Fällen, da in den Erörterungen von keiner Gewalt und keiner Organisation die Rede war"), sondern besprochen wurden Fragen der praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter; dafür allein werden wir verurteilt.













Freisler sagte zu mir in einer seiner Tiraden: "Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen!" Ich weiß nicht, ob die Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war eine Art Dialog - ein geistiger zwischen F. und mir, denn Worte konnte ich nicht viele machen -, bei dem wir uns beide durch und durch erkannten. Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muß. Da war nichts von "komplizierter Mensch" oder "komplizierte Gedanken" oder "Ideologie", sondern: "Das Feigenblatt ist ab". Aber nur für den Herrn Freisler. Wir haben sozusagen im luftleeren Raum miteinander gesprochen. Er hat bei mir keinen einzigen Witz auf meine Kosten gemacht, wie noch bei Delp und bei Eugen. Nein, hier war es blutiger Ernst: "Von wem nehmen Sie ihre Befehle? Vom Jenseits oder von Adolf Hitler!" "Wem gilt ihre Treue und Ihr Glaube?" Alles rhetorische Fragen, natürlich. - Freisler ist jedenfalls der erste Nationalsozialist, der begriffen hat, wer ich bin, und der gute Müller ist demgegenüber ein Simpel.















Mein Herz, eben kommt dein sehr lieber Brief. Der erste Brief, mein Herz, in dem Du meine Stimmung und meine Lage nicht begriffen hast. Nein, ich beschäftige mich gar nicht mit dem lieben Gott oder meinem Tod. Er hat die unaussprechliche Gnade, zu mir zu kommen und sich mit mir zu beschäftigen. Ist das hoffärtig? Vielleicht. Aber er wird mir noch so vieles vergeben heute Abend, daß ich ihn schließlich um diese letzte Hoffart auch noch um Vergebung bitten darf. Aber ich hoffe ja, daß es nicht hoffärtig ist, denn ich rühme ja nicht das irdene Gefäß, nein, ich rühme den köstlichen Schatz, der sich dieses irdenen Gefäßes, dieser ganz unwürdigen Behausung bedient hat. Nein, mein Herz, ich lese genau die Stellen der Bibel, die ich heute gelesen hätte, wenn keine Verhandlung gewesen wäre, nämlich: Josua 19-21, Hiob 10-12, Hesekiel 34-36, Markus 13-15 und unseren 2ten Korintherbrief zu Ende; außerdem die kleinen Stellen, die ich auf den Zettel für Dich geschrieben habe. (...)

Eine große Pause, währen der Buchholz da war und ich rasiert wurde, außerdem habe ich Kaffee getrunken, Kuchen und Brötchen gegessen. Nun schwätze ich weiter. Der entscheidende Satz der Verhandlung war: "Herr Graf; eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam, und nur dies eine: wir verlangen den ganzen Menschen." Ob er sich klar war, was er damit gesagt hat?

Denk mal, wie wunderbar Gott dies sein unwürdiges Gefäß bereitet hat: In dem Augenblick, in dem die Gefahr bestand, daß ich in aktive Putschvorbereitungen hineingezogen wurde - Stauffenberg kam am Abend des 19. zu Peter -, wurde ich rausgenommen, damit ich frei von jedem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung bin und bleibe. - Dann hat er in mich jenen so sozialistischen Zug gepflanzt, der mich als Großgrundbesitzer von allem Verdacht einer Interessenvertretung befreit. - Dann hat er mich so gedemütigt, wie ich noch nie gedemütigt worden bin, sodaß ich allen Stolz verlieren muß, sodaß ich meine Sündhaftigkeit endlich nach 38 Jahren verstehe, sodaß ich um Vergebung bitten, mich seiner Gnade anvertrauen lerne. - Dann läßt er mich hierher kommen, damit ich Dich gefestigt sehe und frei von Gedanken an Dich und die Söhnchen werde, d.h. von sorgenden Gedanken; er gibt mir die Zeit und Gelegenheit, alles zu ordnen, was geordnet werden kann, sodaß alle irdischen Gedanken abfallen können. - Dann läßt er mich in unerhörter Tiefe den Abschiedsschmerz und die Todesfurcht und die Höllenangst erleben, damit auch das vorüber ist. - Dann stattet er mich mit Glaube, Hoffnung und Liebe aus, mit einem Reichtum an diesen Dingen, der wahrhaft überschwenglich ist. - Dann läßt er mich mit Eugen und Delp sprechen und klären. - Dann läßt er Rösch und König entlaufen, sodaß es zu einem Jesuitenprozess nicht reicht und im letzten Augenblick Delp an uns angehängt wird. - Dann läßt er Haubach und Steltzer, deren Fälle fremde Materie hereingebracht hätten, abtrennen und stellt schließlich praktisch Eugen, Delp und mich allein zusammen, und dann gibt er Eugen und Delp durch die Hoffnung, die menschliche Hoffnung, die sie haben, jene Schwäche, die dazu führt, daß ihre Fälle nur sekundär sind und daß dadurch das Konfessionelle weggenommen wird, und dann wird Dein Wirt ausersehen, als Protestant vor allem wegen seiner Freundschaft mit Katholiken attackiert und verurteilt zu werden, und dadurch steht er vor Freisler nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher... sondern als Christ und als garnichts anderes. "Das Feigenblatt ist ab", sagt Herr Freisler. Ja, jede andere Kategorie ist abgestrichen - "ein Mann, der von seinen Standesgenossen natürlich abgelehnt werden muß", sagt Schulze.

Für welch eine gewaltige Aufgabe ist Dein Wirt ausersehen gewesen: All die viele Arbeit, die der Herrgott mit ihm gehabt hat, die unendlichen Umwege, die verschrobenen Zickzackkurse, die finden plötzlich in einer Stunde am 10.Januar 1945 ihre Erklärung. Alles bekommt nachträglich einen Sinn, der verborgen war. Mami und Papi, die Geschwister, die Söhnchen, Kreisau und seine Nöte, die Arbeitslager und das Nichtflaggen und nicht der Partei oder ihren Gliederungen angehören, Curtis und die englischen Reisen, Adam und Peter und Carlo, das alles ist verständlich geworden durch eine einzige Stunde. Für diese eine Stunde hat der Herr sich all diese Mühe gegeben...

Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann von mir sagen: Er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, daß ich gerne noch etwas leben möchte, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrag Gottes. Der Auftrag, für den Gott mich gemacht hat, ist erfüllt. Will er mir noch einen neuen Auftrag geben, so werden wir es erfahren. Darum strenge Dich ruhig an, mein Leben zu retten, falls ich den heutigen Tag überleben sollte. Vielleicht gibt es noch einen Auftrag.

Ich höre auf, denn es ist nichts weiter zu sagen. Ich habe auch niemanden genannt, den Du grüßen und umarmen sollst; Du weißt, wem meine Aufträge für Dich gelten. Alle unseren lieben Sprüche sind in meinem Herzen und in Deinem Herzen. Ich aber sage Dir zum Schluß kraft des Schatzes, der aus mir gesprochen hat und der dieses bescheidene irdene Gefäß erfüllt:

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

J.


Helmut Moltke wurde 12 Tage später, am 23.1.1945, in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

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