Donnerstag, 30. September 2010

Wahrheit (I), oder: Das Alpha des Centauren

















Eine nur zufällige Wahrheit könnte von Unwahrheit nicht unterschieden werden. Sie verdient den Namen nicht. Nietzsche hat dies gesehen, wenn er schrieb, „dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch der Glaube Platons war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist“.

Der Tod Gottes, den Nietzsche als erster proklamierte, meint gerade den anthropologischen Gott, den Gott als moralisches Postulat, den Gott der humanitären Mitmenschlichkeit, den Gott, für den der Satz sich nicht anwenden lässt: „für Gott ist alles gut, schön und gerecht.“ Und auch nicht der spinozistische Satz Wittgensteins: „Gott ist, wie sich alles verhält. Wie sich alles verhält, ist Gott.“

Die ältere Theologie hatte Gott unter anderem durch die Chiffre zweier Willen bestimmt. Wille Gottes meinte einmal das göttliche Gebot, das uns kundtut, was wir wollen sollen. Dieser Wille wird erfahren als sittliche Norm. Wille Gottes meinte aber darüber hinaus das, was sich im Gang der Ereignisse zeigt und mit Moral gar nichts zu tun hat. Diese beiden Chiffren scheinen einander zu widersprechen. Aber sie sind beide unerlässlich zur Bestimmung dessen, was wir mit Gott meinen. Ein Gott, der nur die Besiegelung der kruden Faktizität wäre, wäre eine überflüssige Zutat zu dieser. Alles ist ohnehin, wie es ist. Das Wort „Gott“ muss einen Sinn meinen, der mit den Tatsachen nicht schon gegeben ist. Aber wo wir diesen Sinn nur moralisch verstehen, wo er gegen die Faktizität gedacht wird, da wird er als ohnmächtig gedacht. Ein ohnmächtiger Gott aber kann nicht retten, und wer nicht retten kann, kann auch nicht Gehorsam verlangen. Gott als offene Zukunft des Menschen, Gott als Sinn seines Daseins, das wird zur schönen, aber leeren Formel, wenn dieser Gott nicht zugleich als Anfang gedacht wird.

Ein Gott, der nicht Alpha ist, kann auch nicht Omega sein. Ohne Schöpfungslehre keine Eschatologie. Ein Gott, der mit dem Alpha des Centauren nichts zu tun hat, kann auch für uns nichts bedeuten, was der Rede wert wäre: er kann uns nicht vom Tode retten, denn wir sind ein Stück Natur.

Robert Spaemann – Gesichtspunkte der Philosophie; in: Gott - Wer ist das eigentlich?

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