Sonntag, 11. Juli 2010

Wie läßt sich Moral begründen?


















Eine kurze Geschichte der Moralbegründungen
von Klaus Goergen

Moral, das ist, wenn man moralisch ist.
Versteht Er? Es ist ein gutes Wort.
(Georg Büchner, Woyzeck)

Was die Gewalt für das Recht, das ist die Begründung für die Moral. Ihre Gültigkeit ist ihre einzige Stütze, eine Moral, die ihren Geltungsanspruch nicht begründen kann, darf auf Befolgung nicht hoffen. Soweit sind sich (beinahe) alle einig.

Aber fast alles, was mit der Begründung von Moral zu tun hat, ist umstritten:

Ob sie überhaupt begründet werden darf, kann, oder muss: Schon die schiere Frage: 'Warum soll ich moralisch sein?' halten manche für verwerflich "schon im Zweifel liegt die Untat", sagt Cicero dazu. Andere, wie Prichard, halten die Frage für sinnlos, weil sie sich entweder zirkulär beantwortet, oder falsche, weil außermoralische, Gründe angeführt werden. Wieder andere halten sie für bedeutungslos, weil moralisches Verhalten in praxi nicht von der Begründung von Moral abhängt. "Die Vorstellung, dass es Jack the Ripper oder Adolf Hitler nur an guten Begründungen dafür gefehlt hat, moralisch zu sein, ist ziemlich grotesk.", sagt K. Bayertz.

Umstritten ist ferner, womit Moral begründet werden kann, - hier heißen die wichtigsten Kandidaten: Gott, das Glück, die Vernunft, Natur, Wille, Gefühl und Sprache. Umstritten ist schließlich, für wen die Begründung gelten soll: für alle, wie die Universalisten oder für einige, wie die Relativisten glauben. Nun lassen sich die Moralbegründungen unter verschiedensten Aspekten betrachten.

Die 'deutsche' Betrachtungsweise, die auch dem früheren Lehrplan zu Grunde lag, stellt eine Mischung aus historischer, systematischer und personenorientierter Abfolge dar: die antiken Glücksethiken stehen historisch vor dem Kontraktualismus Hobbes', der moderne Kommunitarismus rangiert systematisch vor der Diskursethik, Kants Ethik wird personenorientiert nach jener J.S. Mills betrachtet. Im Hintergrund ahnt man eine 'pyramidalische' Betrachtung, ähnlich jener, wie sie lange Zeit dem Kanon deutscher Literaturgeschichte mehr oder minder explizit zu Grunde lag: Alles strebt zu Goethe bzw. Kant hin, danach geht es – literarisch bzw. ethisch – bergab.

Aber man muss, um ein Wort Nietzsches zu variieren, schon Deutscher sein, um zu glauben, jene Moralbegründung sei die beste, die uns am meisten fordert. Im Allgemeinen gelten eher jene Begründungen für die stärksten, die mit den schwächsten Prämissen am meisten erklären.

Und es sind auch ganz andere Betrachtungsweisen denkbar. In der angloamerikanischen Tradition wird die Fundierungsdebatte seit Mitte des 19. Jhds. unter dem Schlagwort 'why be moral?' geführt, die Trennungslinie läuft hier eher zwischen den 'Glücksverächtern', Sokrates, Kant, Schopenhauer, Nietzsche und den 'Glücksgönnern' , Aristoteles, Epikur, Mill, Hare, Nussbaum.

Oder es wird danach unterschieden, wer durch die Moralbegründung überzeugt werden soll:

Der reine Amoralist, der als 'Trittbrettfahrer' jede Moralbegründung akzeptiert, solange sie von ihm selbst kein moralisches Verhalten fordert; der "rationale Egoist", der einsieht, dass er von anderen nur erwarten kann, was er selbst zu bieten bereit ist; oder der reine Rationalist, der einsieht, dass es vernünftig ist, moralisch zu sein.

Denkbar wäre auch eine Aufteilung in Begründungen 'von innen' und 'von außen'.

Von innen: Es gibt eine Kraft, eine Anlage, eine typisch menschliche Eigenheit, etwas Ererbtes oder Erlerntes, die uns zu moralischem Verhalten disponieren. Seien es Vernunft und freier Wille, bei Kant, Mitleidsfähigkeit oder Achtsamkeit, bei Schopenhauer oder Carol Gilligan, Sprache als Verständigungsmittel, bei Habermas und Apel, die Intuition von Werten, bei Scheler, die Fähigkeit zu Phantasie und Liebe, bei Martha Nussbaum, das Geworfen-Sein in Verantwortung, bei Sartre oder gar ein angeborener Altruismus, wie ihn die biologische Anthropologie gelegentlich behauptet.

Von außen: Unsere Lage als gesellschaftliche Wesen, mit anderen, unser Angewiesensein auf andere, unsere moralische Sozialisation durch andere, unsere Antizipation von Sanktionen durch ein bestimmtes Verhalten gegenüber anderen, unser Wunsch von anderen respektiert und gut behandelt zu werden, nötigen uns zu moralischem Verhalten. Solche Begründungen 'von außen' verbinden dann antike Tugendethik und Kommunitarismus mit dem Utilitarismus, dem Kontraktualismus, dem amerikanischen Pragmatismus und einer postmodernen 'Ethik des Anderen' bei Lévinas.

Die Beispiele zeigen: verschiedene Darstellungsarten von Moralbegründungen lassen sich begründen.

Was die Vermittlung von Moralbegründungen im Schulunterricht anbelangt, scheint es sinnvoll, die didaktisch formulierte Frage, "wie wird Moral begründet?" in einem engeren Sinne systematisch zu beantworten, d.h., nicht auch noch zu fragen: 'wann und warum hat wer Moral begründet', sondern sich wirklich auf jene Grundannahmen und Argumentationen zu konzentrieren, in denen sich die Moralbegründungen unterscheiden.

In wissenschaftstheoretischer Hinsicht stehen Begründungsfragen sicher am Anfang oder hinter allen Einzelfragen von normativer oder angewandter Ethik; in didaktischer Hinsicht sollten sie als eine Frage neben anderen – etwa jenen nach Gerechtigkeit oder Freiheit - behandelt werden.
Im dargelegten Sinne etwa lassen sich vier allgemeine Begründungsweisen unterscheiden, empirische, anthropologische, kognitive, non-kognitive, die ich in einem kurzen Überblick, darstellend und kritisierend, in Erinnerung rufen möchte. Ich will damit den Rahmen dessen abstecken, was eine Behandlung von Begründungsfragen im Unterricht leisten könnte.

Die älteste, manche sagen, die eigentliche, die einzig ehrliche und glaubwürdige ist die religiöse Moralbegründung. Sie beruht auf doppelter Sanktion: Verheißung und Verdammnis: Himmel und Hölle, Nirvana und Reinkarnation, je nach tugend- oder lasterhaftem Verhalten.
Der "Vater im Himmel" ist durchaus wörtlich zu nehmen. Die erste moralische Instanz, die Eltern, wird in den Himmel verlängert, die moralischen Prädikate bleiben beim Gläubigen an ein Subjekt gebunden. Das meint : Anthropomorphismus von Moralität.
Der große Vorteil: die moralische Verpflichtung (und Begründung) ist unhintergehbar im Über-Ich verankert, die transzendente Autorität erlaubt keine Ausnahmen vom moralischen Handeln. "Der liebe Gott sieht alles" – für Tilman Moser der schrecklichste Satz seines Lebens.

Aber: "Gott ist tot...Wir haben ihn getötet, ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder. Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?..."

Nietzsches apokalyptische Metaphorik zeigt: er weiß um die gewaltigen moralischen Folgen des Verlusts von Religiosität, sieht das moralische Vakuum, das der Tod Gottes zeitigt, und glaubt zugleich mit dem Verlust einer jenseitigen Moralbegründung sei alle Moralbegründung hoffnungslos.

Das begründungstheoretische Vakuum, das durch die fundamentale Religionskritik seit dem 18. Jhd. in Europa entsteht, wird nun, nicht zufällig im unmittelbaren Anschluss daran, von säkularen Begründungen neu zu füllen versucht: Benthams und Kants Fundierungen müssen auch auf dem Hintergrund der Religionskritik ihrer Zeit gesehen werden.

Allerdings: antike säkulare Ethiken haben einen anderen Ursprung:

Man kann sie als empirisch begründet bezeichnen, weil sie Moral als empirisches Mittel zu einem konkretenempirischen Zweck verstehen: Glückseligkeit, eudaimonia, ist für das 'zoon politicon' nur erreichbar, wenn es sich in der Polis tugendhaft verhält. Moral wird in antiker Tugendethik als Garant geglückten Lebens in der Gemeinschaft begründet. Die Bandbreite reicht von Zenon bis Epikur, je nachdem, welche Rolle dem Glück im Verhältnis zur Tugend zugesprochen wird:
Für Platon und die Stoa gilt der Vorrang der Tugend, sie ist nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung für das Glück. Nur wer seine unmittelbaren Glücksbegierden in Askese und Apathie zurückstellen kann, erlangt die höhere Glückseligkeit der Ataraxia, der Unerschütterlichkeit. Epikur dreht das Verhältnis um: wer seinem – allerdings wohldosierten, gemäßigten – Glücksverlangen nachgibt, der lebt tugendhaft. Aristoteles gelangt zu einer mittleren Position durch die Politisierung der Glücksverheißung: Das subjektive Glücksstreben ist erstes, notwendiges, aber nicht hinreichendes Ziel für ein geglücktes Leben in der Polis. Dazu bedarf es, wie uns die Vernunft sagt, der sittlichen Tugenden. Arete und logos sind autonome Entitäten, aber sie bleiben auf das letzte Ziel des Glücks ausgerichtet.

Der Kontraktualismus, auf Hobbes zurückgehend, kann als Bindeglied zwischen einer antiken Tugendethik und dem modernen Utilitarismus verstanden werden. Auch er argumentiert empirisch. Moralisches Verhalten begründet sich für den rationalen Egoisten aus der Notwendigkeit, den Übeln des Naturzustands zu entrinnen. Weil ich von den Anderen erwarte, dass sie sich an Normen halten, denn nur so ist mein Leben und Eigentum geschützt, muss ich – notgedrungen – mich auch an diese Normen halten. Die gegenseitige Verpflichtung wird im fiktiven Vertrag, dem Kontrakt, festgelegt. Bei Hobbes schließen die Untertanen diesen Vertrag mit dem Herrscher, dem Leviathan, der sich dafür verpflichtet, ihre Sicherheit zu schützen; im modernen Kontraktualismus wird der Vertrag als wechselseitiger zwischen den souveränen Bürgern verstanden. Ein aufgeklärter, symmetrischer Kontraktualismus gilt heute vielen als letzte, verbliebene Fundierungsmöglichkeit von Moral, nachdem alle Hoffnungen auf eine Begründung durch Vernunft, Natur und Empathie im Schwinden sind. Aber der Kontraktualismus sieht sich mit vier Einwänden konfrontiert:

- der Mensch wird als individualistische Monade gesehen, losgelöst von allen, in Wirklichkeit von klein auf anerzogenen, sozialen Bezügen und Verpflichtungen. Die vorgestellte Situation: dass sich ein Einzelner überlegen kann, ob er den Naturzustand verlassen will, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, entspricht nicht der Lage, in der sich reale Menschen sozial vorfinden.
- der angenommene Egoismus übersieht den spontanen, auf Sympathie oder Empathie beruhenden Altruismus. Dieser nicht-normative Altruismus ist aber in Wirklichkeit Quelle der meisten moralischen Handlungen.
- Damit eng verwandt ist der dritte Einwand. Der Kontraktualismus kann weder Entstehung noch Wirkung des moralischen Gewissens erklären, ohne sich selbst aufzuheben: wer eine innere Instanz ausgeprägt hat – warum auch immer – die ihm sagt, wie er sich moralisch zu verhalten hat, der braucht keinen Kontrakt.
- Schließlich: der Kontraktualismus beantwortet nur die Frage: 'warum soll man moralisch sein?', nicht die Frage: 'warum soll ich moralisch sein?' Dem Egoisten wird als beste Möglichkeit jene erscheinen, in der sich alle anderen an den Kontrakt halten, nur er selbst nicht. Das Problem des moralischen 'Trittbrettfahrers' ist innerhalb des Kontraktualismus nicht zu lösen.


Auch der Utilitarismus argumentiert im einzelnen anders als die antike Tugendethik:

- er hat keinen Apriori-Begriff des Guten oder Gerechten.
- er kennt keine Universalien: "Menschenrechte sind Unsinn auf Stelzen" sagt Bentham.
- nur Lustmaximierung und Unlustvermeidung gelten als Handlungszwecke.
- Der größte Vorteil gegenüber den antiken Tugendethiken liegt darin, dass die Begründung auf eine einzige, unmittelbar evidente, mit der Natur des Menschen zweifelsfrei vereinbare Größe, das Luststreben, reduziert wird. Damit scheinen die Probleme des Intuitionismus und Relativismus behoben.

Dennoch: verbunden mit antiker Glücksethik wie dem Kontraktualismus bleibt der Utilitarismus über die konkrete Zweckbezogenheit (telos) von moralischem Handeln. Der Utilitarismus begründet Moralität mit den nützlichen Folgen von Handlungen. Was gut ist, erweist sich somit erst a posteriori: wenn es dem größeren Glück einer größeren Zahl dient. Das Problem, subjektive und allgemeine Glückssteigerung in Einklang bringen zu müssen, wird dadurch gelöst, dass sie für identisch erklärt werden: Es sei, sagt J.S. Mill, "eine psychologische Tatsache, dass, etwas für allgemein wünschenswert zu halten und es für lustvoll zu halten, ein und dasselbe ist"

Nun mag das noch zu Mills Zeit plausibel gewesen sein, denkt man an Ausbeutung, Kinderarbeit und Verelendung im Frühkapitalismus. Aber heute gilt das leider nicht mehr: 'Tempo 100' und Mülltrennung sind zwar durchaus allgemein wünschenswert, aber lustvoll leider nicht. Die Glücksverheißung für den einzelnen und für die Allgemeinheit – das ist ja das Dilemma jeder ökologischen Utopie in der "Risikogesellschaft" – fallen auseinander. Letztlich sind alle empirischen Fundierungen als Begründungsversuch von Moral logisch widersinnig: Was an Erfahrung und Erwartung von Nutzen gebunden ist, kann nicht – rückwärts – ein Mittel als Zweck begründen. Wenn moralisches Verhalten zum Mittel wird - um in der Polis glücklich leben zu können, um dem Naturzustand zu entkommen, um den allgemeinen Nutzen zu maximieren - kann es als Zweck nicht begründet werden. Ein austauschbares Mittel kann keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen.

Das Beispiel Gentechnologie zeigt: wer hier utilitaristisch argumentiert, wie die meisten Befürworter, dessen Positionen haben kurze Halbwertszeiten, sie werden hinfällig, sobald sich ein neuer Nutzen für eine größere Zahl kalkulieren lässt. Damit wird deutlich, es gibt keinen inhärenten Maßstab in empirischen Begründungen , um bestimmte Mittel (z.B. Folter, Mord) als zweckdienlich auszuschließen. Der Zweck heiligt jedes Mittel. Empirische Begründungen sind, so Hans Krämer "Bankrotterklärungen der Moral". In Kants Sprache: empirische Begründungen sagen als "hypothetische Imperative" nur etwas über die "Legalität" von Handlungen, aber nichts über deren "Moralität".

Das ist der Hintergrund für Kants deontologische Begründung. Moralität wird bei ihm doppelt begründet:

Einmal durch die Kritik an allen bisherigen empirischen Begründungen:
Solange mein Handeln ziel- oder zweckgerichtet ist: das gute Leben, der größte Nutzen etc. ist es nicht wirklich frei, sondern innerlich oder äußerlich vorbestimmt. Alle Inhalte von Willensentscheidungen legen den freien Willen an die Kette seiner Zwecke. Alle Imperative, die ich mir setze, stehen unter dem Vorbehalt – der Hypothese – einen konkreten Zweck erreichen zu wollen, mein Handeln wird damit stets zum Mittel. Was bleibt ist die reine Form des Willens, das Wollen um des Wollens willen, ich will, weil ich will, und nicht, um dies und jenes zu erreichen. Erst der kategorische Imperativ ist also Ergebnis reiner Selbstverpflichtung.

Zum anderen durch den Autonomiebegriff: Moralität wird zum letzten Beweis von Freiheit, weil erst die autonome, kategorische Selbstverpflichtung, die von allen inhaltlichen Zwecken, allen Folgen absieht und nur vom reinen Willen und der Vernunft geleitet ist, wahrhaft frei ist.
Die Trias von Vernunft, Wille und Moral verdichtet sich im Pflichtbegriff: Zu seiner wahren Größe erhebt sich der Mensch als pflichtbewusstes Wesen. Die Antwort auf die Frage, 'warum soll ich moralisch sein?' lautet bei Kant: 'weil es vernünftig ist.'

Natürlich liegt sofort der Einwand nahe: 'Und warum soll ich vernünftig sein?' Kant hat den Einwand geahnt, in der Metaphysik der Sitten scheint es am Ende so, als halte er die Antinomie von Vernunft und Moral für letztlich unlösbar. Aber es gibt weitere Einwände:

1. Man kann sich so wenig kategorisch selbst verpflichten, wie etwas versprechen, verzeihen oder bei sich selbst entschuldigen. Anders gefragt: was kommt zuerst: das Wollen oder das Sollen? Das ist bei Kant nicht eindeutig geklärt. Mit Schopenhauer gefragt: "Warum sollte ich, was ich ohnehin soll, auch noch wollen?" Zum Sollen muss ich gewillt sein, dem moralischen Imperativ folge ich nur, wenn ich dazu motiviert bin, und das Motiv kann letztlich nur mein Glück sein. Kants Versuch, das Motivproblem, etwas halbherzig, durch die Vertröstung auf ein jenseitiges Glück zu lösen, nötigt ihn, neben dem freien Willen auch noch einen gerechten Gott und eine unsterbliche Seele anzunehmen. Das ist allerdings, wie Konrad Ott anmerkt: eine "imposante Verlegenheitslösung."

Harald Schmitz urteilt noch schärfer: die Glückseligkeitshoffnung als letztliche moralische Motivation bei Kant bezeichnet er als "zynischen Eudämonismus". In gewisser Hinsicht ist Kants Moralbegründung damit der religiösen am nächsten und zugleich am entferntesten von ihr. Sein moralischer Gottesbeweis ist zugleich der Abgesang auf alle Gottesbeweise. Nach theologischer Auffassung verpflichten die moralischen Gesetze, weil sie Gottes Gebote sind, nach Kant sind sie nur deshalb als Gebote Gottes anzusehen, "weil wir dazu innerlich verpflichtet sind". (KrV, B.847) Die Existenz des Sittengesetzes im autonomen Menschen begründet die Existenz Gottes.

2. Kants Ethik macht keinen sinnvollen Umgang mit ethischen Konflikten möglich: reine praktische Vernunft, freier Wille und Selbstverpflichtung sind rigorose Instanzen, die keine Konflikte, kein Abwägen vorsehen, aber darum geht es in der moralischen Praxis meist.

3. Freier Wille, Pflichtbewusstsein und Vernunft erscheinen seit Marx, Darwin, Nietzsche und Freud ohnehin in trübem Licht.

Die Kritik an Kant ist auch der Ausgang intuitionistischer Begründungsansätze.

Schopenhauers Mitleidsethik relativiert sein extrem kritisches Menschenbild durch die Zuschreibung einer elementaren Fähigkeit zum Mitleiden. Moral gründet in der Empathiefähigkeit. Schopenhauer muss versuchen, Mitleid mit seiner Annahme eines grenzenlosen Egoismus beim Menschen kompatibel zu machen. Das unternimmt er mit einer Projektionsthese: So wie ich im Allgemeinen und weit überwiegend mein eigenes Wohl zum obersten Ziel mache, so verfüge ich über die Fähigkeit, durch Hineinversetzen in den anderen, sein Wohl zu meinem elementaren Anliegen zu machen. Meine Mitleidsfähigkeit ist die einzige, und um des Zusammenlebens willen notwendige, Relativierung meines ansonsten grenzenlosen Egoismus.

Die Wertethik Schelers kritisiert den Kant'schen Vernunftbegriff: "Eine praktische Vernunft, die dem Triebbündel (Mensch) erst ihre Form aufzupressen hätte, gibt es nicht!" An die Stelle von Vernunft bzw. freiem Willen setzt Scheler die, seiner Meinung nach elementaren, Gefühle von Liebe und "sittlicher Werterkenntnis". Was ein sittlicher Wert ist, das sagt mir weder die Vernunft, noch der Wille, noch die Pflicht, sondern allein die Intuition, bzw. meine natürliche Liebesfähigkeit.

Die aktuelle Diskussion um die Bedeutung moralischer Gefühle für die Begründbarkeit von Moral, in den Care- und Achtsamkeitsethiken etwa, rekurriert ebenfalls auf den Intuitionismus. Letztlich gehen alle intuitionistischen Ansätze auf Platons Ideenlehre zurück: die Ideen des 'Guten' und des Gerechten sind oberste, von menschlicher Erkenntnis unabhängige 'Werte', sie gehören als Tatsachen zur Welt und beanspruchen den höchsten Wahrheitsgehalt.

Wie aber, so muss man fragen, ist etwas vorstellbar, das zugleich reale empirische Tatsache ist und einen normativen Anspruch erhebt? Diese seltsame Doppelnatur der intuitiv gefassten Werte bleibt reine Metaphysik. Die Dinge der Welt fordern nichts.

Zudem ist Intuition ein schlechter Ratgeber, wenn es um allgemeine Gültigkeit moralischer Werte geht: sie kann uns verlassen – oder erst gar nicht auftreten. Als Begründung ist der Intuitionismus zirkulär: wer die Intuition hat, braucht keine Begründung, wem sie fehlt, dem hilft keine.

Anthropologisch-biologische Begründungen scheinen handfester. Sie entstehen mit Darwin und sind heute in zwei Varianten

– als Soziobiologie und als Verhaltensforschung – in der aktuellen Diskussion. Beide Varianten können nur eine Minimalmoral begründen: als Familien-Altruismus, der dem Zweck der eigenen Gen-Vermehrung dient – und schon damit als Begründung entfällt, weil Altruismus hier falsch verstanden ist: altruistisch handelt nur, wer von der eigenen Person, von eigenen Interessen absieht. Wer zu seinen nächsten Verwandten freundlich ist, um den eigenen Genpool zu sichern, der handelt nicht altruistisch, sondern egoistisch.
– oder als Stammes-Altruismus, der sich durch Gruppenselektion ausprägt.

Aber das bleiben Moralen für Urmenschen – oder Affen, wie Frans de Waal zu zeigen versucht. Viele Forscher, etwa Konrad Lorenz, betonen ausdrücklich, dass moralische Anforderungen für moderne Menschen biologisch nicht begründbar sind. Eine naturwissenschaftlich erhärtete anthropologische Begründung von Moral ist zu schön – um wahr zu sein.

Was bleibt, sind drei aktuelle Begründungsansätze .

Alle sind auf dem Hintergrund der Kritik aller bisherigen Begründungsversuche zu sehen.

Zum einen die Diskursethik:

Sie hält zwar an Kants Prämissen fest, versucht aber den Mangel zu überwinden, dass moralische Entscheidungen bei Kant einsame Einzelentscheidungen von Individuen sind. Was moralische Gültigkeit beanspruchen darf, ergibt sich in der Diskursethik erst a posteriori als Konsens in einem herrschaftsfreien Diskurs. Habermas:

"Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, dass sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muss ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen "

Apel versucht eine "Letztbegründung" von Moral (auf die Habermas verzichtet) mit dem Verweis auf das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft", d.h., der Umstand, dass menschliche Sprache von Anfang an auf Verständigung gerichtet ist, sei eine 'unhintergehbare' Tatsache. Auf Kommunikation gerichtete Sprache enthält damit von Beginn an ein moralisches Element, insofern jede Äußerung auf ihr Verstanden-Werden-Wollen hin angelegt ist, den 'Anderen' also stets von Anfang an mit einbezieht.

Der Charme der Diskursethik liegt zum einen darin, dass sie eine gleichsam demokratische, zivilgesellschaftliche Variante der Pflichtethik bietet, und dieser so die puritanische Spitze bricht, zum anderen, wie Habermas selbst betont, im "Wechsel der Perspektive von Gott zum Menschen. 'Gültigkeit' bedeutet jetzt, dass moralische Normen die Zustimmung aller Betroffenen finden können, sofern diese nur... gemeinsam prüfen, ob eine entsprechende Praxis im gleichmäßigen Interesse aller liegt."

Die Kritik setzt an den Regeln an, die Habermas für eine ideale Kommunikationssituation vorgibt. Der Hauptvorwurf betont die Zirkularität der Argumentation: die Diskursbedingungen der Diskursteilnehmer – frei, gleich, vernünftig etc. – setzten bereits bei Beginn des Diskurses voraus, was erst Ergebnis, im Konsens, sein kann.16

Zweitens: Ziel der Diskurse sei in Wirklichkeit nicht der Konsens, sondern der Dissens, der Widerstreit, "La différance" (Lyotard) Konsens ist bestenfalls ein Zwischenstadium, am Ende steht die Paralogie.

Drittens: Die Bedingung, dass die Diskursteilnehmer "sagen, was sie meinen" (Habermas) ist uneinlösbar. Sie übersieht, dass wir uns missverstehen können, ohne es zu bemerken. Die hinter der Bedingung stehende Referenztheorie der Sprache ist linguistisch nicht mehr haltbar. Der Dekonstruktivismus hat zuletzt gezeigt, wie sehr, gerade in philosophischer Sprache, die Metaphorik die Begrifflichkeit, und damit das Welt- und Menschenbild prägen. (Derrida) Da auch Metaphern der wittgensteinschen Bestimmung folgen, dass die Bedeutung eines Begriffs die Regel seines Gebrauchs ist, gibt es keine Metaphern an sich, sondern nur
Verwendung von Sprache, daher auch kein 'Eigentliches', daher auch keine eindeutige
Unterscheidung von sagen und meinen. Und: selbst wenn ich sagen könnte, was ich meine, bleibt fraglich, ob der Hörer weiß, was ich meine, mit dem, was ich sage.

Habermas selbst hat im Übrigen in jüngeren Arbeiten den Geltungsanspruch der Diskursethik hinterfragt: Er sieht das Motivationsproblem jeder kognitiven, keine Erlösung verheißenden Moralbegründung, wenn er zugesteht:

"Weil es keinen profanen Ersatz für die persönliche Heilserwartung gibt, entfällt das stärkste Motiv für die Befolgung moralischer Gebote." Auch wenn wir in rationalen Diskursen ausgehandelt haben, was moralisch richtig ist, verhindert das nicht, "dass andere Motive nicht doch die stärkeren sind." Und deshalb sei letztlich jede Vernunftmoral "auf ein Recht angewiesen, das normenkonformes Verhalten bei Freistellung der Motive ...erzwingt."

Das hört sich schon recht pragmatisch an: Wo der Geltungsanspruch von Moral nicht mehr greift, da greift das Gesetz. Eine tatsächliche pragmatische Moralbegründung, wie sie in Amerika entwickelt wurde, argumentiert allerdings anders.

Peirce formuliert die pragmatische Grundüberzeugung: Die Welt ist uns nicht als solche gegeben, sondern immer nur in den Begriffen, die wir uns von ihr machen, und: die praktischen Wirkungen des Gegenstands unseres Begriffs in unserer Vorstellung, das ist das Ganze des Begriffs des Gegenstands.

R. Rorty formuliert es pointierter: Wahrheit ist "was zu glauben für uns gut ist." Solche Formulierungen trugen dem Pragmatismus den Ruf ein, eine "Händlerphilosophie" zu sein.
All unsere Vorstellungen, auch die ethischen mithin, sollen auf ihre möglichen praktischen Wirkungen hin beurteilt werden. Der teleologische Grundzug wird hier deutlich.

Zentral ist ein dialektischer Begriff von Kontingenz: Sprache, Kultur, Selbstbild, auch Moral sind zufällig, d.h. einerseits könnten sie genauso gut anders sein, andrerseits prägen sie die Menschen durchaus. Auch wenn all unsere moralischen Überzeugungen nichts als "Produkte von Zeit und Zufall" sind, können wir uns doch nicht anders entscheiden. Die Begründung von Moral liegt einmal in der Tradition einer moralischen Gemeinschaft, zum anderen darin, dass sie nützlich ist. Entsprechend, so Rorty, wäre es für einen Kosovo-Albaner eine moralische Zumutung – und lebensgefährlich - sollte er einen Serben als gleichwertigen Menschen betrachten.

Dennoch: Der Pragmatismus hält an der Idee der Aufklärung fest, glaubt, dass "Menschenrechtskultur" erweitert und verbreitet werden kann, aber nicht durch Vernunftappelle, nicht im Diskurs oder per Dekret , sondern nur durch Verbesserung der Lebensumstände und durch Empathie. Die beiden Aspekte hängen kausal zusammen: Man muss es sich leisten können, moralisch zu sein. Daher ist die Verbesserung der Lebensumstände das beste – und im Grunde einzige – Mittel, die Moralität zu befördern. "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Wenn Rorty darauf verweist, die Lektüre von "Onkel Toms Hütte" habe die Moral mehr befördert, als 200 Jahre Kategorischer Imperativ so steckt dahinter eine Umwertung von Ethik und Ästhetik.

Die Ethik, als Teil der Philosophie, dreht sich im Kreis und verharrt im unernsten Streit ums Recht-haben; die Literatur, als Teil der Künste, hingegen befördert die moralische Sensibilität für die Leiden des anderen, schult unsere Empathiefähigkeit und relativiert unser Selbstbild.

Aber: Die moralischen Gefühle halten nicht vor: beim nächsten Taxi-Mord heißt es wieder: Kopf ab. Sie sind, das macht sie so verlockend, viel leichter evozierbar aber auch manipulierbar, als rationale Einsichten, und letztlich sind moralische Gefühle moralisch neutral: Scham, Schuld und Reue kann auch der Verbrecher empfinden, der seinen Komplizen verrät; empören und entrüsten kann man sich auch über die Erniedrigten und Beleidigten, das tiefe Mitleid mancher Tierschützer geht einher mit zynischer Menschenverachtung.

Der moralische Relativismus hat keinen Maßstab, Unmoralisches zu qualifizieren. G.W. Bush und Osama bin Laden, der Papst und die Moon-Sekte begründen ihre Moralen demnach mit gleichem Geltungsanspruch. Ist eine Ethik, die dies zulässt, wirklich gut begründet?

Schließlich der postmoderne Ansatz.

Die erwähnte Kritik an der Diskursethik ist der Ausgangspunkt postmoderner Ethik. Sie geht nochmals zurück zur ersten Begründung: die religiöse ist für sie die eigentliche – und einzig ehrliche.

Wenn sie nicht mehr gilt, und natürlich geht die Postmoderne davon aus, sind alle anderen Versuche Ersatz, Metaphysik, ein hoffnungsloses Verlangen, die Einheit von Vernunft und Mythos, Denken und Fühlen, Begriff und Empfindung zu bewahren, bzw. wiederzubeleben. Aber diese Einheit ist endgültig verloren.

Eine normative Begründung von Moral diesseits der jenseitigen erscheint der Postmodernen hoffnungslos. Ihren radikalen Skeptizismus entfaltet sie in folgenden Schritten:

1.) Der Mensch ist ein moralisch ambivalentes Wesen. Diese Ambivalenz ist unaufhebbar, alle Versuche, den moralisch-besseren Menschen zu erziehen, münden in Gesinnungsdiktatur, Tugendterror und Grausamkeit. Es gibt keine Garantie für Moralität, wer sie dennoch erstrebt, verschlimmert nur die Lage.

2.) Moral ist "inhärent nicht-rational". Sie zeigt sich weder aus utilitaristischem Kalkül, folgt keinen Zweck- und Nützlichkeitserwägungen, noch ist sie Prinzipien- oder Maximen-geleitet. Nicht aus Lust, noch aus Pflicht handeln wir moralisch, sondern aus spontanem Impuls. Das autonome moralische Gewissen ist nicht einklagbar, mal schlägt es, mal schweigt es.

3.) Ethik irritiert nur die Moral. Sie nutzt den spontanen moralischen Impuls für ihre Steuerungs-absichten, will ihn zügeln, zähmen, dirigieren – und zerstört ihn dadurch. Sie verschiebt Moral aus dem Bereich persönlicher Autonomie in machtgestützte Heteronomie, sie will erlernbare Regeln, ethisches Wissen an die Stelle subjektiver moralischer Verantwortung setzen und sieht nicht, dass Moral das Chaotische ist, inmitten einer rationalen Ordnung.

4.) Moralität ist aporetisch. Die Folgen moralischer Handlungen sind fast stets uneindeutig, widersprüchlich. Selten sind moralische Handlungen eindeutig gut, meist hingegen ein Abwägen im Konfliktfall, was negative Folgen einschließt. Daher auch unsere Unsicherheit, wenn wir moralisch handeln. So kann etwa selbst vermeintlich so eindeutig Gutes, wie Hilfsbereitschaft in Abhängigkeit und Beherrschung des Hilfesuchenden umschlagen.

5.) Moral ist nicht universalisierbar. Das heißt nicht, dass sie vollkommen relativ, beliebig ist, wohl aber stülpt der Universalismus in seiner bekannten Form einen ethischen Code über alle, versucht die moralische Gleichschaltung, die Verallgemeinerung einer einzigen, westlichen Moral – und erreicht damit doch nur ein Verstummen der "wilden, autonomen, widerspenstigen, unkontrollierten Ursprünge moralischer Urteilskraft." Indes, ein konsequenter Relativismus, der die Gleich-Gültigkeit kulturspezifischer Moralen, ja, lokalen Brauchtums propagiert, ist nicht die Alternative zum europäisch-rationalistischen Universalismus; da die Vielfalt an Moralen sich widersprechen, gar neutralisieren können, führt er letztlich in die moralische Beliebigkeit, den Nihilismus.

6.) Moral ist also nicht relativ. Dies sind nur die verschiedenen ethischen Codes, die versuchen, echte, spontane, natürliche Moralität durch ihre vorgefassten Normen und Regeln zu ersetzen. Die Moral selbst ist autonom, die heteronomen Ethiken sind es, die die Utopie eines befreiten, moralisch-autonomen Subjekts verhindern.

7.) Moralität ist nicht begründbar. Vielmehr geht sie allen Begründungsversuchen voraus, steht auch gar nicht unter Begründungszwang. Sie geschieht einfach – oder nicht – ex nihilo. Auch erfordert sie keine Überwindung, kein Absehen vom Eigensinn, keinen Widerspruch zur menschlichen Natur, kein kaltes Kalkül. Sie ist da.

8.) Moralität ist das Erwachen der Verantwortung für den Anderen. Erst im Blick des Anderen erkenne ich mich selbst ganz, und damit zugleich als moralisches Selbst. Die wahre Autonomie, als Abgrenzung vom Anderen, ist nur durch die Hinwendung zu einem konkreten Anderen möglich.

Zigmunt Bauman:"Ich bin ich, insoweit ich für den anderen bin...Verantwortung, die übernommen wird, als ob sie immer schon da war, ist die einzige Begründung, welche die Moral haben kann."

Hier scheint die Utopie einer vollendeten Selbst-Findung des Menschen durch Hinwendung zum anderen auf: Mein 'wahres' Selbst wird erst in vollkommener "Selbstlosigkeit" (Lévinas) zu finden sein. – Allerdings nur, wenn ich es suche.. Jede intersubjektive Verbindlichkeit, jeder von außen vorgetragene Geltungsanspruch über das persönliche Bedürfnis, Verantwortung für den anderen zu übernehmen, hinaus, ist so verschwunden.


Aber: wenn wir das zugeben, ist Moral, es sei denn krypto-religiös, nicht begründbar, damit kann sie keine Geltung beanspruchen, ist nichts Intersubjektives mehr – und damit jede normative Fundierung verschwunden.

Womit wir wieder am Anfang wären.

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