Auszug aus dem Artikel: "Bedrohung der Offenen Gesellschaft" (2004)
von Gerhard Besier
In einem Essay „Zum Thema Freiheit“ (1958/67) hat Karl Popper – unter Berufung auf die Freiheitsgeschichte Großbritanniens und der Schweiz – daran erinnert, „dass es Werte gibt, die um jeden Preis verteidigt werden müssen, und zu diesen Werten gehören vor allem die persönliche Unabhängigkeit, die persönliche Freiheit.“ Und im selben Atemzug sagt er, dass die Freiheit nicht umsonst zu haben ist, sondern „dass die Freiheit erkämpft werden muss“ (Popper, 1996, 157).
Popper spannt einen Bogen von der Freiheit zum Gebrauch unserer Vernunft. Er versteht darunter, „dass wir durch die Kritik unserer Fehler und Irrtümer lernen können und insbesondere durch die Kritik anderer und schließlich auch durch Selbstkritik (aaO., 160).“ Popper verbindet mit seinen Überlegungen eine Absage an die Philosophie der Romantik, die er für unredlich hält. Sie habe nur „dem Geist der Zeit Ausdruck“ gegeben, ihm nur Konzessionen gemacht, anstatt ihre Richterin zu sein. In diesem Sinne sollte man meinen, dass das Reich der Vernunft, des Wissens, deckungsgleich ist mit dem Bereich des Diskutablen. Doch diese vernünftige Annahme wird durch den Zeitgeist falsifiziert, wie unlängst der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe herausgearbeitet hat. Wir können und dürfen über viele Dinge nicht mehr in den vernünftigen Diskurs eintreten. Man fragt sich: Wie kann so etwas in einer Gesellschaft, die sich für freiheitlich hält, eintreten?
Der Mechanismus ist ganz einfach:
Wenn einflussreiche Kreise in einer Gesellschaft ihre Deutungshoheit bedroht sehen, fördern sie über die öffentliche Meinung die Tendenz zur Moralisierung des an sich diskutablen Gegenstandes. „Moralisierung des Wissens bedeutet nämlich, es indiskutabel zu machen. Der Einspruch gegen Meinungen, die als Meinungen moralisch für inakzeptabel gelten, lautet nämlich nicht ‚Du irrst Dich’. Er lautet vielmehr ‚Diese Meinung ist indiskutabel, und Du machst Dich unmöglich, wenn Du sie dennoch vertrittst’“ (Lübbe, 2004, 185).
Anstatt dem aufgeklärten Grundsatz zu folgen, dass eine öffentlich geäußerte Meinung auf Zustimmung oder Widerspruch stößt und entsprechende vernünftige Debatten auslöst, erntet der Unvorsichtige „Verlegenheit, Empörung gar und im Endeffekt Ausschluss aus dem Kreis der als moralisch diskursfähig Anerkannten“ (ebd.). Eine nicht im Trend liegende oder als längst entschieden dekretierte Meinung wird skandalisiert und der, der sie geäußert hat, für inkompetent erklärt.
Wie kann es in einer Gesellschaft, die sich selbst für vernünftig hält, zu einer solchen Zeitgeist-Regulierung kommen? Das Paradoxe daran ist, dass es sich um eine unbewältigte Folge der Freiheit handelt. „Je freier die Meinung, je gesicherter ihr Rechtsschutz, um so unübersehbarer differenzieren sich Gesinnungsgemeinschaften heraus, die ihre Meinungsdivergenzen, statt kognitivbegründungstheoretisch, moralisch qualifizieren“ (ebd.).
Ein Beispiel:
Es ist erwiesen, dass sich Rauchen schädlich auf die Gesundheit auswirkt. Das ist der Fall. Wenn trotz wiederholter Aufklärung über den Sachverhalt dieser ignoriert wird, gerät der Raucher in den Ruch der Leichtfertigkeit, ja der Unverantwortlichkeit. Eben das heißt: Eine Kognition wird moralisiert.
In diesem Fall ist der Vorgang immerhin noch von rationaler Diskursivität. Er stellt eine Kluft zwischen Sein und Sollen fest. Wenn es bei dem Individuum zur kognitiven Anerkennung der misslichen Wahrheit und zu einer daraus folgenden Verhaltensänderung nicht reicht, neigt die Gesellschaft dazu, moralisierend nachzuhelfen. Das ist vielleicht unangenehm, aber hinnehmbar, wenn der Moralisierung tatsächlich ein kognitiver Diskurs vorausgegangen ist, der den Sachverhalt eindeutig geklärt hat.
Doch wie ist es, wenn wir – ganz hypothetisch, versteht sich – folgende Wendung der Dinge annehmen: Aufgrund neuer Forschungsergebnisse würde der kognitive Konsens wieder in Frage gestellt werden. Wie steht es dann mit dem moralischen Urteil? Sollte beispielsweise eine medizinische Untersuchung feststellen, dass Rauchen in Maßen gesundheitsförderlich ist, wäre der Diskurs neu eröffnet. Angesichts der Einbrüche bei den Steuereinnahmen würde ein solches Ergebnis vielleicht von einflussreichen politischen Gruppierungen unterstützt und die Moralisierung gegebenenfalls rasch revoziert.
Aber es könnte sich auch anders verhalten. Die durch Moralisierung faktisch durchgesetzte Verächtlichmachung des Rauchers könnte längst ideologisiert sein, in Parteiprogramme aufgenommen worden sein und damit zum Überzeugungshaushalt einflussreicher Subkulturen gehören. In diesem Falle würde sich die Subkultur vehement gegen die Wiederaufnahme des kognitiven Diskurses sperren, auf der Moralisierung des Sachverhalts beharren und die Wissenschaftler mit einer losgetretenen Empörungskampagne zum Schweigen bringen wollen. Zu argumentieren hätte in einem solchen Fall wenig Sinn.
Es gibt auch den Umstand, dass Rauschmittel, wie zum Beispiel Alkohol, eindeutig gesundheitsschädlich sind. Ihr Konsum wird aber nicht moralisch geahndet, sondern es werden im Gegenteil Emotionen eingesetzt, um das kognitive Urteil durch Lächerlichmachen der Warner zu marginalisieren. Sobald aber Interessenten anderer Rauschmittel für ihre Droge einen ähnlichen Status beanspruchen und – gestützt auf das Urteil von Wissenschaftlern – etwa den Genuss von Haschisch legalisieren wollen, hat ein kognitiver Diskurs darüber, ob und inwiefern Alkohol weniger gefährlich ist als Haschisch, keine Chance. Um eine solche Diskussion zu unterbinden, wird das Begehren moralisiert, und die Interessenten werden als potentielle „Sympathisanten“ der „Drogenszene“ aus der Diskursgemeinschaft ausgestoßen.
Wirtschaftliche und politische Interessen können also die Wahrnehmung dessen lenken, was moralisch geboten ist und was nicht. Menschen sind zu allen möglichen Selbsttäuschungen bereit, wenn sie meinen, dass ihren Interessen damit gedient ist. So werden Hersteller von Mobiltelefonen die These von der gesundheitspraktischen Unschädlichkeit von elektro-magnetischen Feldern mit aller Macht verbreiten und mit allen Mitteln versuchen, dieses Bild in der Öffentlichkeit auch zu erhalten. Nicht nur mit emotionalen Mitteln, auch mit der Instrumentalisierung von Wissenschaft kann der Versuch unternommen werden, etwas für schädlich oder unschädlich zu deklarieren. Dabei kommt es gerade nicht darauf an, festzustellen, was nun wirklich der Fall ist und was nicht. Vielmehr gehört die Verhinderung des rationalen Diskurses gerade zur Strategie der Wahl.
Als besonders ärgerlich gelten jene Personen, die in Zwischenrufen die Herbeischaffung solideren Wissens verlangen, die erwarten, dass eine Entscheidung storniert wird oder die gar längst Festsstehendes noch einmal auf den Prüfstand zurückschicken wollen. Dann ist das Geschrei der so oder so Betroffenen meist recht laut. Die Forderung, den Störenfried zu bestrafen, ihn zu eliminieren, übertönt das kognitive Begehren nach Prüfung und überführt das Problem auf die Ebene des seichten Feuilletons. Es ist natürlich sehr viel leichter, sich in Empörungsattitüden zu äußern, die auf scheinbar längst Bekanntem basieren, anstatt sich unter neuen Fragestellungen in eine Materie einzuarbeiten, die sich zunächst fremd und sperrig ausnimmt. Nicht die Beschaffung von Wissen ist das Problem unserer Zeit, sondern die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Wissens.
Die Fortschritte der Gehirnforschung beispielsweise stellen manche Aspekte unseres Menschenbildes in Frage. Wie ist es mit der Freiheit menschlicher Entscheidungen bestellt, können Menschen sich für das Gute oder Böse entscheiden? Wie determiniert ist menschliches Verhalten wirklich? Diese und andere Fragen behagen uns nicht. Nach einer Zeit des Zuwartens dominieren inzwischen spöttische Kommentare über die angeblich wirklichkeitsfremden, anmaßenden Ansichten dieser Wissenschaftler. Nach zunächst geduldigem Gewährenlassen werden ihre Thesen oft jenseits des kognitiven Diskurses verworfen. Dabei gehört es ganz unbedingt zur Aufgabe von Wissenschaftlern, das, was anscheinend selbstverständlich ist, immer wieder einer kritischen Überprüfung zuzuführen. Solche Wissenschaftler erhalten in Deutschland das negativ konnotierte Etikett „umstritten“. In den Vereinigten Staaten ist nur das, was als „controversal“ bezeichnet wird, von Interesse. Eine These, die auf die spontane Zustimmung aller trifft, führt kaum weiter. Denn meist artikuliert sie nur das zeitgenössische Lebensgefühl, macht es zur Norm aller Dinge und bestärkt eine bräsige kollektive Selbstgewissheit.
Die Moralisierung kognitiver Gehalte nimmt auch deshalb zu, weil die Menschen bei ihrer praktischen Wirklichkeitsorientierung immer weniger auf ihre eigenen Primär-Erfahrungen zurückgreifen können. Immer häufiger sind sie dazu verurteilt, über Dinge zu reden und Gegenstände zu benutzen, über die sie zu wenig wissen. Dann ist es eine kommunikative Hilfe, im Konsens mit anderen für oder gegen etwas zu sein, ohne begründen zu müssen, warum man so und nicht anders urteilt. Dies betrifft nicht nur die Gesellschaft insgesamt, sondern ausgerechnet jene Gruppe, von der man das am wenigsten erwarten dürfte: die Zunft der Wissenschaftler selbst. Da die Fachgebiete immer enger, das Wissen aber umgekehrt dazu immer komplexer wird, kommt es zu erstaunlichen Urteilen von Forschern über Sachgebiete aus den Nachbardisziplinen. Bei der Besetzung von religionswissenschaftlichen Lehrstühlen innerhalb von theologischen Fakultäten beispielsweise kann es geschehen, dass der von außen in die Kommission berufene Religionswissenschaftler einen Kandidaten für am besten qualifiziert hält, dem die Theologen nicht einmal einen Listenplatz zuerkennen wollen. Der Diskurs über solche sich direkt widersprechenden Urteile führt unweigerlich auf die moralisierende Ebene, weil die Diskursebenen nicht miteinander kompatibel sind.
In der Verfassungsrechtspolitik werden zunehmend Tendenzen sichtbar, die demokratischen Ordnungssysteme mit Volksrechten anzureichern. Warum ist das so? „Mit der Unsicherheit in der Bilanz des Für und Wider einer anstehenden Entscheidung, die sich auf Sachprobleme von sehr großer Komplexität bezieht, wachsen die Legitimitätsansprüche an die Entscheidung, die zu treffen ist, und eine Volksabstimmung ist das klassische Institut zur Verschaffung von Legitimität letzter Instanz“ (Lübbe, 2004, 194).
Wohl bemerkt: Damit wird das Urteil nicht sachgerechter, aber endgültiger. Mit der Spekulation auf die vox populi kann man Macht erwerben. Die Idee etwa, eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft der Türkei in der EU herbeizuführen, ist aus Machtinstinkt geboren. Denn jeder, der mit offenen Augen und Ohren in unserer Gesellschaft lebt, weiß natürlich, wie das deutsche Volk über diese Frage denkt. Ein komplexes Problem würde so auf eine Ebene zurückgeführt, die mit einer kognitiven Bewältigung, mit Problemlöse-Strategien, nichts zu tun hat. An diesem Beispiel wird deutlich: Das moralisierende Urteil kann auf Vorurteilen basieren und sich zu einem Feindbild verfestigen.
Solche Entwicklungen sind ein kardinaler Bedrohungsfaktor für die offene Gesellschaft.
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