Freitag, 2. Juli 2010

Angriff auf die Freiheit




















In ihrem Buch "Angriff auf die Freiheit - Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte " rechnen die beiden Autoren Ilija Trojanow und Juli Zeh mit den Entwicklungen hinsichtlich fundamentaler freiheitlicher Rechte ab, die sich gegenwärtig in Deutschland abspielen. Das Buch ist ein aufgewühlter Warnruf an die Nation, ausgehend von der Frage, die immer wieder mal - fast "nebenbei" - thematisiert wird, und doch ohne das ihr gebührende, dringend benötigte öffentliche Echo verhallt:

Wer bedroht unsere Demokratie stärker: militante Islamisten oder die Befürworter einer totalen Überwachung?

Trojanow und Zeh gehen von letzterem aus, und legen die besorgniserregende Blind - und Verdrehtheit in der Wahrnehmung und Meinungsmache zu diesem Thema offen.

Auszüge.

"Die Anschläge vom 11. September 2001 (...) versetzten manche Staaten in einen Schockzustand, der seitdem für immer weitere schockierende Folgen sorgt: (...) Grundlegende Auffassungen von bürgerlicher Freiheit wurden wie Ballast über Bord geworfen. Ein Grundrechtsstandart, den wir als eine unserer größten Stärken betrachtet hatten, erschien plötzlich als Sicherheitslücke. (...) Zur Bekämpfung der `Terroristischen Bedrohung`, die seit langem bekannt, nur niemals zuvor so medial sichtbar gewesen war, ergingen grundrechtsbeschränkende Maßnahmen, deren Durchsetzung kurz zuvor niemand für möglich gehalten hätte. (...)
Noch in den Achtzigern hatte eine geplante Volkszählung in Deutschland Massenproteste ausgelöst, weil viele Menschen eine Aktualisierung der Meldedaten als unerträglichen Eingriff in ihre persönliche Freiheit empfanden. Zwei Jahrzehnte später protestierte so gut wie niemand dagegen, daß jeder Bürger dem Staat seine Fingerabdrücke hinterlassen soll, obwohl es dabei offensichtlich nicht um die Fälschungssicherheit von Pässen, sondern um die Errichtung einer europaweiten Datenbank geht.

Was ist passiert? Wirkt eine Verteidigung der individuellen Freiheit seit den schrecklichen Bildern aus New York wie kleinliches Beharren auf einer zu großzügigen Verfassung, wenn nicht gar als Angriff auf die staatliche Sicherheit? Sind prognostizierte Schreckensszenarien für die Massenmedien so viel interessanter und glaubhafter als die realen Einschränkungen unserer Grundrechte? So oder so liegt der traurige Verdacht nahe, daß es mit der Verinnerlichung freiheitlicher Ideale nie so weit her war, wie wir dachten. Die Erfolgsbilanz politischer Aufklärung nach dem Ende eines Jahrhunderts der Totalitarismen sieht trist aus.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in einmaliger Weise einem Gesetz nach dem anderen den grundrechtlichen Riegel vorschiebt und dadurch die kritische Auseinandersetzung mit dem demokratischen Selbstverständnis fördert, hat sich am Tempo der sicherheitspolitischen Entwicklungen nichts geändert. Während in den Schulen immer noch die Idee vom alten Rechtsstaat gelehrt wird, findet draußen der große Umbau statt. Dieser Vorgang umgibt sich mit einer Aura der Unvermeidlichkeit. Gutmütig wie eine Kuh schaut der Bürger den angeblich zwingend notwendigen Entwicklungen zu und käut die dazugehörigen Argumentationen wieder: Anders als durch Freiheitsbeschränkung sei 'Sicherheit' nicht zu gewährleisten, und der 'unschuldige Bürger' sei von den Veränderungen doch ohnehin nicht betroffen. Unaufgelöst bleibt ein grundlegendes Dilemma, das bei ruhigem Abwägen der Sachverhalte unweigerlich zutage tritt: Kann man ein Wertesystem verteidigen, indem man es abschafft?

(...)

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann eine Demokratie untergeht, wann ein Rechtsstaat zur leeren Hülle verkommt. Es gibt kein Maßband, keine Stoppuhr, keinen Lackmustest. Nirgendswo warnt ein Schild: 'Vorsicht! Sie verlassen jetzt den demokratischen Sektor!'
Im historischen Rückblick mage es im jeweiligen Fall offensichtlich scheinen, ab welchem Punkt die Freiheit irreversibel beschädigt wurde - im Falle des Nationalsozialismus etwa durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Dann wird in die Vergangenheit hineingefragt: 'Wie konntet ihr das drohende Unheil nicht erkennen? Das mußtet ihr doch kommen sehen! Warum habt ihr euch nicht gewehrt?' Und als Antwort hören wir nur das schwindelerregende Schweigen angesichts des scheinbar unaufhaltsamen Laufs der Dinge.

Eine treffende Selbstdiagnose aus der Mitte des unmittelbaren Geschehens heraus ist ein Ding der Unmöglichkeit. Uns Zeitgenossen fehlt es am notwendigen Abstand; es fehlt schlicht an Kenntnissen über den zukünftigen Verlauf der Ereignisse. Die Folgen politischer Entwicklungen treten mal langsamer, mal schneller ein, stets aber aufeinander aufbauend, sich gegenseitig beinflussend und daher vielschichtig.

Weil sich die Freiheit eben nicht mit einem Paukenschlag verabschiedet, krankt jedes gut funktionierende System daran, daß sich seine wohlmeinender Anhänger in (falscher) Sicherheit wiegen. Sie vergessen, daß sie ihre Freiheit nicht etwa vom Staat erhalten, sondern daß sie, im Gegenteil, einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben. Freiheit ist kein Geschenk der Obrigkeit, sondern ein Grundzustand der Natur oder eine Gabe Gottes, je nachdem, welche Schöpfungsgeschichte Sie bevorzugen. Freiheit ist kein Bonus, keine Prämie, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie geht unserem Staatsverständnis voraus.

Wären die Streiter für Gerechtigkeit und Freiheit so gut organisiert wie die Gegenkräfte, sähe die Menschheitsgeschichte anders aus. Wenn Millionen von Menschen auf die Straße gegangen wären, um ihre Grundrechte zu verteidigen, wäre es zu keinem der Überwachungs- und Kontrollgesetze gekommen. Es ist die Aufgabe eines jeden Bürgers, regelmäßig auszuloten, ob da, wo Freiheit draufsteht, tatsächlich noch Freiheit drin ist.
Wir können uns gegen alles wehren, was uns der Staat zumuten will. Das ist die Essenz freiheitlicher Gesellschaften. Alle Rechte, die wir heute - etwa im Umgang mit Gerichten, mit der Polizei und anderen Behörden - genießen, sind Folge von individueller Skepsis und gemeinschaftlichem Widerstand, seit Jahrhunderten. Sie wurden erfochten von Menschen, deren Namen wir auf Straßenschildern wiederfinden und an die wir, wenn überhaupt, in Sonntagsreden beiläufig erinnert werden. Diese Menschen haben für die Überwindung entrechteter Versklavung oft genug mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrem Glück bezahlt. Als Nutznießer dieser Opfer tragen wir eine Verpflichtung gegenüber dem Erkämpften. Wir dürfen uns nicht leichtfertig die Butter vom Brot nehmen lassen, nur weil sie ein Geschenk unserer Vorfahren ist. Das Erreichte stellt keine Konstante dar; das einmal Errungene kann schnell wieder verschwinden. Freiheit ist ein Wert, der von jeder Generation, von jedem Einzelnen neu erkämpft und verteidigt werden muß. Auch von uns.
Ein Frosch, der in einen Topf mit heißem Wasser geworfen wird, springt sofort wieder heraus, wenn er kann. Doch setzt man ihn in kaltes Wasser und erwärmt den Topf gleichmäßig, bleibt er ruhig sitzen, bis er stirbt:



Wir haben in unserer Geschichte genügend Frösche als warnende Beispiele vor Augen. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, werden wir späteren Generationen nur schwer erklären können, warum wir nicht in der Lage waren, ihnen eine Freiheit zu vererben, die wir selbst einst genossen. Seit neun Jahren schauen wir wie gelähmt zu, was in und mit unserem Land passiert, während man uns einzureden versucht, die Lehren des 20. Jahrhunderts hätten im 21. Jahrhundert nichts mehr zu bedeuten. Raus aus dem Topf!"

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